Auf der Schwelle des Schreckens – "Traversées" des Théâtre de l’entrouvert

von Sophia Fischer
Aus: "Traversées", Théâtre de l'Entrouvert. Foto: Franz Kimmel

„[a]llons loin de ma frayeur telle.“ (1)

Wie ein Motto könnte dieses Zitat aus dem Text „Seuils“ von Patrick Kermann über der Inszenierung „Traversées“ stehen. Dabei spielt die Bewegung der Zuschauer*innen, angeführt von der Künstlerin Elise Vigneron eine entscheidende Rolle, indem der Text ganz gezielt auffordert mitzukommen und vor dem Schrecken weit weg zu gehen – oder ist es ein Weg in den Schrecken hinein?

Die lyrischen Textflächen des Originaltexts aus dem Jahr 1999 sind in kleine thematische Textabschnitte gegliedert und wurden für die Figurenspielerin Katarini Antonakaki geschrieben und mit ihrer damaligen Gruppe inszeniert (2).

Elise Vigneron konzentriert sich in ihrer Version, ihrer Überschreibung, auf Ausschnitte des Textes, die besonders auf die Schwelle beispielsweise zwischen Leben und Tod anspielen und die eigene Identität in Frage stellen (3), während der Originaltext auch noch andere Themen bearbeitet.

Jeder der sieben Spielorte war durch einen viereckigen Rahmen oder eine Holztüre gekennzeichnet, die jeweils Schwellen darstellten. So spielen die meisten Szenen innerhalb oder hinter dem Rahmen oder der Schwelle, wie beispielsweise in einer besonders beeindruckenden Szene, deren Spielort eine Holztüre war, durch dessen kleines Fenster die Performerin selbst zunächst geschaut hat und im nächsten Moment einen Puppenkopf einer älteren Frau schauen ließ. Sie öffnete zaghaft die Tür und berührte das vor der Türe installierte Becken mit Wasser. Sie schlug jedoch die Tür wieder energisch zu. Als die Tür wieder geöffnet wurde, erschien der vorher gezeigte Puppenkopf, der nun auf dem Gesäß der Performerin thronte. Während die Künstlerin in einem Kopfstand verharrte, verhüllt von ihrem Kleid, belebte sie die Puppe mit ihren Beinen, die als Arme der Puppe fungierten. Die Puppe wusch sich damit wie in einer visuellen Täuschung ihre Arme und ihr Gesicht mit Wasser. Hier kann der Türrahmen die Schwelle zwischen Leben und Tod, aber auch die Schwellen der verschiedenen Generationen oder der Zeit thematisieren. Der Text lässt dafür großen Interpretationsspielraum.

Der Text wird darüber hinaus auch selbst bildlich in die Aufführung miteingebunden, indem er auf einem Overheadprojektor zunächst Stück für Stück frei gekratzt wird und somit immer mehr Wörter sichtbar werden oder indem der Text auf der Rückseite einer zweidimensionalen Holzpuppe sichtbar wird, die am Ende des Aufführungsabschnitts umgedreht auf den Boden gelegt wird.

Der Text erfüllt darüber hinaus auch eine verbindende Funktion für die Inszenierung, denn die „[s]hort fragments of Patrick Kermann’s «Seuils» are used as links between the different scenes, and set a dramatic thread along the path, as if they were the clue to a riddle“ (4). So leitet die anfangs beschriebene Textstelle und die Bewegung der Zuschauer*innen die Inszenierung ein, die von dem intimen Kreis der Zuschauer*innen, sowie von dem Schauplatzwechsel lebt. Auch am Ende der Vorstellung wird mit einer textdominanten Szene abgeschlossen, indem nur noch der Schatten der Darstellerin hinter einem Rahmen und der Text zu sehen ist, den die Künstlerin mit Wasser auf das in den Rahmen gespannte Material schreibt. Dieser wird jedoch unter flackender Beleuchtung zusammen mit dem Schatten der Künstlerin verwischt. Somit führt auch am Ende der Inszenierung kein Weg aus der Furcht hinaus oder löst am Ende die Inszenierung selbst durch ihre Atmosphäre das Rätsel des Textes von Kermann?

Textquellen:
(1) Patrick Kermann, Seuils (Daune (Morlanwelz): Lansmann Editeur, 2001), 11.

(2) Ebd., 2.
(3) Théâtre de l’Entrouvert, Hg. Traversée. Progrz. München 2020, Vorst. 24.10.2020.
(4) Théâtre de l’Entrouvert, Hg. Traversée. Progrz. München 2020, Vorst. 24.10.2020.

Aus: "Traversées", Théâtre de l‘Entrouvert. Foto: Franz Kimmel
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