Papiertheater: Geschichten mal anders

von Ann-Kathrin Baer

17. Oktober 2020, 17 Uhr. Bereits zum zweiten Mal wird im Münchner Stadtmuseum "Geschichtenverwirrung" aufgeführt. Das durch Corona begrenzte Publikum nimmt auf zugeteilten Stühlen Platz und beobachtet gespannt das Geschehen. Zwei Männer betreten den Aufführungsraum. Sie sägen und hantieren an Holzlatten und fertigen gemeinsam einen Tisch. Währenddessen reden sie über „die Geschichte mit der Schöpfung“. Ihre eigene Schöpfung wird zur Grundlage anderer Schöpfungsgeschichten. Mit der Zeit wendet sich der Fokus zu der Geschichte des Turmbaus von Babylon: „Aus dem Tisch vom Anfang wurde jetzt ein Turm.“

Mit Hilfe eines Papierstapels und einzelner Blättern wird der Turm von Babylon mehrfach auf dem Tisch auf- und wieder abgebaut. Dabei wird jedes Mal eine neue Geschichte des Turmbaus erzählt. Es handelt sich um Geschichten aus verschiedensten Perspektiven, die über Generationen weitergegeben wurden. Jede Veränderung erschafft eine neue Erzählung, doch zwei Sachen bleiben immer gleich: Der Turm wird gebaut und mit der Zeit zerfällt er. Bei diesen Konstanten handelt es sich um das, was für alle sichtbar ist.

Es wird beschrieben, dass eine Geschichte von Babel weitererzählt werden will. Menschen kommen zusammen, um den Turm zu bauen, verschiedene Sprachen werden gesprochen und letztendlich erliegt der Turm der Zeit und der damit verbundenen Witterung. Immer wieder wird Papier gestapelt und neu verteilt: Geschickt werden dadurch die Erzählungen untermalt. Vor den Augen der Zuschauer wird der Turm gegen Himmel aufgerichtet und zerstört, immer und immer wieder.

Die Darsteller gehen dazu über, vor dem Publikum zu demonstrieren, dass das gleiche Zeichen verschieden gedeutet werden kann. So auch das Beobachtete oder Erlebte beim Turmbau von Babel. Auch die Frage nach der Benennung von Gegenständen kommt auf: Es wird demonstriert, was passiert, wenn ein einzelner Mensch nach und nach allem einen anderen Namen gibt: Die Kommunikation wird unmöglich.

Die Darsteller wenden sich wieder dem Wahrheitsgehalt der Geschichten zu. Sie berichten von Sokrates, welcher Regeln für das Weiterzählen von Geschichten aufstellte: Sieben Siebe. Es werden drei Kriterien festgelegt, um zu entscheiden, welche Geschichten weitererzählt werden sollen, wenigstens eins sollte zutreffend sein: Ist die Geschichte wahr, ist sie gut, ist die Weitererzählung notwendig? Musik setzt ein und ein Lied wird über das „Wahrheitslabyrinth“ gesungen. Verschiedene Wahrheiten können nebeneinander existieren und schließen sich nicht gegenseitig aus.

Die Darsteller räumen das nun auf dem Boden verteilte Papier von der Aufführungsfläche. Nach Vollendung bitten sie das Publikum eigene wahre Geschichten zu erzählen: Geschichten, die wahr sind, die gut sind und/oder erzählt werden müssen.

Aus dem Stück ist mitzunehmen, dass ein und dieselbe Geschichte auf verschiedenste weisen erzählt werden kann. Doch welche ist wahr? Entsprechen alle der Wahrheit? Zwar verändert sich die Geschichte, aber der Kern bleibt gleich. In dem Fall des Turmbaus von Babel wird die Geschichte von Menschen mit verschiedenem Hintergrundwissen erzählt. Dadurch kann Gott aber auch die Verwendung von Gastarbeitern für die verschiedenen Sprachen verantwortlich gemacht werden.

(Die Zitate wurden aus der Aufführung übernommen)

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