Was bleibt? - Figurentheater zwischen grotesker Lebensfreude und künstlicher Intelligenz

von Si Liu
Die Money Maus aus dem Punch Agathe Universum. Foto: Franz Kimmel

„Die Welt ist meine Vorstellung“ mit diesen knappen Worten beginnt Arthur Schopenhauer sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Für mich steht dieses Zitat sinnbildlich für das diesjährige Figurentheaterfestival wunder. Das eigene Vorstellungsvermögen wird auch stets gefordert: Ob im Vorfeld angesichts der Coronapandemie, während jeder Aufführung und danach.

Zuallererst: Auch in Zeiten einer allgemeinen Verunsicherung ist das sinnliche Live-Erleben eines Theaterfestivals möglich. Vielleicht erfolgt dabei die lebendige Wahrnehmung des ureigensten menschlichen Geistes noch intensiver.

Als szenisches Leitprinzip des Figurentheaters steht das Material, das zum darstellerischen Leben erweckt wird. Im Festival zeigt sich in diesem Akt der Lebenserweckung zugleich die mannigfaltige Vielfalt menschlicher Schöpfungskraft: Riesig-bunte oder klein-eintönige, flüssige oder feste, digitale oder reale Materialen.

Meine Eindrücke spiegeln diese Vielfalt wider: Es ist das kritische Hinterfragen von Informationen in unserer pluralistischen Medienwelt bei der Geschichtenverwirrung (Ellrodt & Das Papiertheater). Symbolisch dazu steht der große leere Papierstapel sowie die jeweils um Nuancen variierende Wiederholung von Geschichtsereignissen. Im Kontrast dazu verbreitete die riesige Punch Agathe (Stefanie Oberhoff) auf dem Marienplatz bei strahlendem Sonnenschein und einnehmender Livemusik absurd groteske Lebensfreude inmitten der Pandemie-Tristesse. Die auf ihrem instagram-Account geposteten Beiträge kommentieren in vorzüglichem Humor ihren Aufenthalt während des Festivals: „Ersma Geld holn; dann shoppn; Yeah, Titelblatt!“ (1).

Der Ausgangspunkt von "WAX-en" (Martin & Cañénguez) liegt in biografischen Assoziationen, die in das Material sprichwörtlich eingegossen werden: Aus heißem Wachs, das in flüssigem Zustand vergossen wird und hiernach feste Formen annimmt, entstehen träumerisch-verstörende Objekte, die mich in die Vergangenheit der Protagonisten mitnehmen.

Schließlich entführt A.L.I.C.E. Lost in Cyberland (Meinhardt & Krauss) nicht nur die Titelheldin, sondern auch mich als Zuschauer in eine Welt voller stimmiger Detailliebe, Spielwitz und zutiefst berührender Animation. Das Ergebnis ist eine Mischung aus Kunstinstallation, Spiegelung von Realitäten sowie Durchwirbelung von Dimensionen. Hochaktuell nimmt die Inszenierung den Zeitgeist unserer technologisierten und digital vernetzten Welt auf, indem Touchscreens sowie bewegliche Robotikfiguren im Mittelpunkt stehen. Künstliche Intelligenz lässt grüßen.

Was bleibt? Es ist die Erkenntnis, dass ästhetische Erfahrungen wiederkehren. Das Zitat aus Faurés Requiem am Ende von Punch Agathes Auftritt weist zwar auf die Endlichkeit hin. Andererseits kann mit diesem Zitat auch der unendliche Aufführungskreislauf assoziiert werden, wenn in Analogie dazu das abgehärtete Wachs am Schluss von WAX-en in den Ausgangstopf gelegt wird, damit dasselbe Material für die nächste Vorstellung wiederverwendet wird.

Textquelle
(1) https://www.instagram.com/punchagathe/ (zuletzt abgerufen 11.11.2020).

Aus: "WAX-en", Martin & Cañénguez. Foto: Theater
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