Wenn der Mensch nicht mehr der einzige Spieler ist - Über Kontrollverlust und Bescheidenheit

von Zhu Jianyue
Aus: "Traversées", Théâtre de l'Entrouvert. Foto: Franz Kimmel

Eine wichtige Frage im Figurentheater ist: Warum Puppen? Warum verzichtet man auf Schauspieler*innen aus Fleisch und Blut und wendet sich an diese Objekte?

Natürlich kann man diese Frage beantworten: Historische Faktoren, persönliche Kunstkonzepte, Verfremdungseffekt, man kann leicht eine Puppe zerstören aber braucht nicht ins Gefängnis zu gehen, oder nur wegen der niedrigeren Kosten.

Was ich auf diesem Figurentheaterfestival gesehen habe, ist ein gleichgestellteres Verhältnis von Figur und Objekt zu Spieler, wie z.B. in der Inszenierung „Traversées“ des Théâtre de l'Entrouvert. Dabei tritt die „Figur“ nicht mehr als eine reine Requisite auf der Bühne auf, wie die Pistole in Anton Chekhovs „Die Möwe“ oder die Bombe direkt unter dem Tisch von Alfred Hitchcock, sie dient Handlungen und Rollengestaltung und zeigt dennoch ihre eigene Präsenz.

Genauso wie der Titel es schon verrät, zeigt „Traversées“ einen liminalen Status. Weder ist es ein reines Werk des Puppentheaters noch ein traditionelles Werk des Schauspielertheaters. Das Verhältnis von der Schauspielerin zu Figur ist nicht mehr auf einen einseitigen „manipulieren - manipuliert werden“ Rahmen beschränkt. Nicht nur macht die Schauspielerin sich zu einer Puppe, sondern auch die als Maske auftretende Puppe ist fähig, mit der Schauspielerin um die Kontrolle über ihren Körper zu konkurrieren. Als diese lachende Maske gewann und den Körper einnahm, präsentierte sich ein Monster vor dem Publikum. Dann hat die Puppe ihr naives Image aus dem Kindertheater ganz verändert. Dieser Schrecken entsteht einerseits daraus, dass die Figur mit ihrer unheimlichen Gestalt und Verhaltensweise das Verständnis des Publikums abgelehnt hat. Andererseits hat sie das Publikum so deutlich und anschaulich spüren lassen, dass der Mensch von seiner Bühne vertrieben worden ist und seine Kontrolle über alles herzugeben hatte.

Die Überlegung zu diesem Verhältnis ist keineswegs etwas Neues. Aber sie ist niemals so wichtig wie heute. Wir sind überrascht herauszufinden, dass der Mensch nicht mehr der einzige Spieler auf der Welt ist. Unser Leben kann durch unbedeutend aussehende Dinge völlig verändert werden. Wir insistieren darauf, dass wir über fortgeschrittene Technologie und entwickelte menschliche Zivilisation verfügen. Und niemals stellen wir uns vor, dass es noch etwas auf der Welt gibt, das der Mensch nicht schaffen kann. Am Figuren- und Objekttheater heutzutage soll man nicht nur die ungeheure Kreativität sehen, viel wichtiger ist die dabei gezeigte Bescheidenheit.

Aus: "Traversées", Théâtre de l'Entrouvert. Foto: Franz Kimmel
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